KANTO
KANTO
Performance
Ensar Altay diskutiert in seinem zweiten Spielfilm universelle und demographisch immer drängendere Fragen nach den Grenzen der Fürsorge: Wann werden familiäre Verpflichtungen zur Last? Weshalb wird dieses Engagement noch immer vor allem von Frauen erwartet? Wie ist das Verhältnis zwischen Erwartungsdruck und eigenem Anspruch an den familiären Zusammenhalt? In welchem moralischen Dilemma steckt man, wenn man sich nicht kümmert?
Als Mutter Saliha merkt, dass sie im Haus ihres Sohnes nicht nur willkommen ist, läuft sie einfach davon und die Suche nach ihr beginnt. So mischt sich in das Sozialdrama ein Hauch von Thriller und in das Weltbild von Ehemann Ilya die Angst, seine Familie könnte von der ermittelnden Polizei als dysfunktional etikettiert werden. Sude dagegen reagiert pragmatisch, macht sich auf die Suche nach der Alten und kommt ihr dabei unerwartet nahe.
Für Tochter Elif vollzieht sich währenddessen ein völlig ungewollter Abnabelungsprozess: weil die ganze Familie um sie herum nur noch über die Schwiegermutter redet, bleibt ihr Wunsch, an der Schule in der Kanto-AG als Sängerin mitzumachen, ungehört. Kanto ist eine türkische Musikrichtung, die orientalische und westliche Einflüsse mischt und zuerst in den Pausen von Theaterstücken aufgeführt wurde. Konservativen gilt sie als obszön.
Am Ende erfüllt sich Elifs Wunsch - fast wie von Zauberhand. Doch ihre Großmutter bleibt verschwunden. Durch die Familie geht jetzt ein Riss, filmisch fein herausgearbeitet durch die Inszenierung unscheinbarer Blicke und körpersprachlicher Details. Ein durchaus universelles Portrait über den Elefanten im familiären Wohnzimmer: Erwartungen werden nicht ausgesprochen, nachgefragt wird selten, der Weg von der unerfüllten Erwartung bis zum Beleidigt-Sein ist kurz, der Weg zur richtigen Entscheidung lang.
Text: Bernd Buder
DI 04.11. I 19:00 I WELTSPIEGEL SAAL 3 I OmU, de + en
MI 05.11. I 12:30 I WELTSPIEGEL GROSSER SAAL I OmU, de + en
Ensar Altay
Kursat Uresin
Yalın Özgencil
Begüm Aydın
Alpay Unyaylar
Didem İnselel, Sinan Albayrak, Yıldız Kültür, Ece Bağcı, Züleyha Yıldız
Freelance, TRT
Ensar Altay - Ensar Altay studierte an der London Film Academy. Zwischen 2012 und 2020 drehte er in verschiedenen Ländern Fernsehdokumentationen für Fernsehsender. Seine Konzentration auf das Kino begann mit dem Dokumentarfilm Kodokushi (2020), der die Geschichte einsamer Todesfälle in Japan erzählt. Kodokushi feierte seine Premiere auf dem 24. Shanghai Film Festival und wurde beim 23. Camerimage Film Festival für den Golden Frog Award nominiert. Der Film wurde auf mehreren internationalen Festivals ausgezeichnet und 2020 von der Japanese Film Association of Singapore zu einem der besten Filme Japans gekürt. Kanto ist sein erster Spielfilm.